Predigt: Die Wolke der Zeugen

Predigt anläßlich der Einweihung der neugestalteten Apostelkapelle am 24. März 2002 von Ulrich Brockhoff-Ferda, ehemaliger Pfarrer in Bulmke, und Gido Hülsmann, Architekt

Textbezug: Hebräer 12,1-3

Teil A: Ulrich Brockhoff-Ferda

Liebe Gemeinde,

Wir dürfen vor einer Tatsache nicht die Augen verschließen: Mitglied der christlichen Gemeinde zu sein ist etwas Besonderes. Und es ist auch etwas Bedrohliches. Dieser Aspekt der christlichen Lehre war für die die Leute, an die der Hebräerbrief gerichtet war, ganz selbstverständlich. Heute gerät er leicht in Vergessenheit, besonders dann, wenn die christliche Gemeinde in der Überzahl ist so wie bei uns. Und wenn dadurch der Eindruck entsteht, das Christentum sei das Selbstverständliche, und alles Andere die Ausnahme. Und wenn dann die Kirche noch Wege und Weisen findet, daß es möglichst wenig Einsatz kostet, Mitglied der Kirche zu sein, sich fast wie von selbst ergibt.

Die alte und ewig gültige Wahrheit ist: Für Gottes Wahrheit muß man streiten. Es ist in der Bibel oft vom Kampf die Rede, und dabei ist natürlich, jedenfalls für mich, nicht an einen Kampf mit Waffen gedacht, sondern an einen Kampf der Überzeugungen. Durch die Welt zieht sich ein tiefer Graben. Die Bibel spricht z.B. vom Graben zwischen Welt und Geist oder zwischen Gut und Böse, vom Graben zwischen denen, die dem wirklichen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nachfolgen und denen, die den Götzen nachfolgen. Die Bibel macht auch deutlich: Es gibt keine religiöse Gruppe, die automatisch auf der richtigen Seite stünde. Deshalb müssen wir uns bemühen, daß wir auf der richtigen Seite stehen. Und dazu, in aller Kürze gesagt, ist Jesus gekommen.

Unsere Kirche heißt Pauluskirche. Die neugestaltete Kapelle trägt den Namen Apostelkapelle. Das sind wichtige Hinweise. Um im christlichen Leben zu bestehen und auf dem rechten Weg des Glaubens und der Tat zu bleiben, brauchen wir Vorbilder und Hilfen, wir brauchen die Wolke der Zeugen, die Männer und Frauen, die mit uns gehen und vor uns gingen. Heute morgen möchte ich ein wenig über Paulus nachdenken. Paulus war ein ganz besonderer Apostel. Und zwar deshalb, weil er kein Insider war. Damals, am Anfang der Kirche, gab es ja Insider, das waren die sogenannten Jünger. Die hatten alles mitgemacht. Die waren mit in Jerusalem eingezogen. Die hatten erlebt, wie man Jesus zugejubelt hatte. Die hatten mitbekommen, wie man ihn angeklagt und umgebracht hatte. Und die hatten sich zuguterletzt überzeugen lassen von den Frauen: Jesus lebt. Und die waren dann hergegangen und hatten davon immer weiter erzählt.

Aber Paulus gehörte nicht zu dieser Gruppe. Ursprünglich war er sogar ein Gegner der frühen Christenheit und hieß auch anders, nämlich Saulus. Aber durch eine Begegnung mit Gott wurde er in seinen Auffassungen verändert. Daher stammt das geflügelte Wort: Vom Saulus zum Paulus. Paulus ist ein gutes Beispiel dafür, daß Gott seine Leute nach Maßstäben beruft, die nur er kennt, daß es ihm nicht darauf ankommt, ob einer ein Insider ist. Es zählt nur das, was der Mensch nach seiner Berufung tut, und wenn das gut ist, dann ist alles gut. Darum gibt es manche Kirchen, die das Wort „Wiedergeburt“ ganz wichtig nehmen. Es ist in der Tat wichtig. Es muß einen Tag und ein Stunde geben, in der mir klar wird, ich bin nicht einfach aus Gewohnheit ein Christenmensch, sondern aus Überzeugung.

Der zweite Apekt, auf den ich hinweisen möchte, ist eine spezielle Überzeugung von Paulus. Paulus hatte nämlich eine ketzerische Idee. Die ersten Jünger meinten: Wir sind Juden und wurden dann Christen, nachdem wir erkannt hatten: Jesus Christus führt unseren Glauben sozusagen zum Höhepunkt. Für sie war es deshalb selbstverständlich, daß nur Juden Christen werden konnten. Und nun sagt Paulus: Diese Aufassung ist nicht überall hilfreich. Wir müssen den christlichen Glauben auch öffnen für Menschen, die nicht zuvor Juden sind.

Paulus streitet für diese Sichr der Dinge. Man muß nicht ein Jude sein, um berufen zu werden, man kann auch ein Heide sein; man muß kein Mann sein, denn Gott beruft gleichermaßen Frauen; man muß nicht reich sein, nicht weiß, usw. Und davon zehren wir bis heute, und darum freue ich mich, daß wir eine Pauluskirche sind.

Teil B: Gido Hülsmann

Ich möchte an dieser Stelle nicht über die lebendigen Zeugen unseres Glaubens reden, sondern über die stillen Zeugen, die Kirchräume, und warum sie auch in Zukunft ein wichtiges und erhaltenswertes Gut sein sollten. Wenn man heute über Kirchumgestaltung oder Nutzungserweiterung spricht, wird man immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob es nicht sinnvoller sei, finanzielle Mittel in soziale Projekte zu investieren. Ich denke, daß diakonische Aufgaben für unsere Kirche eine ganz zentrale Rolle spielen und weiterhin spielen sollten. Aber ist nicht das Herzstück einer jeden Gemeinde der Gottesdienst und damit auch der Ort der Feier?

Der Reformierte Weltbund hat dies bei seinem Treffen in Seoul so ausgedrückt: „Der Gottesdienst ist das Herzstück des Lebens der Kirche, der Gemeinde, aber er auch jedes Einzelnen. In ihn hinein mündet aller Dank und alle Freude, alle Sorge und alle Not. Aus ihm heraus strömt Kraft und Zuspruch für den Alltag“. Allerdings geht es hierbei nicht nur um Neubauten. Die Gemeinde ist aufgerufen, immer wieder neu über ihre Gottesdienstpraxis nachzudenken, Gewohntes zu verändern, ergänzen oder zu erweitern, um den Menschen in der jeweiligen Zeit Gottes Wort verständlich zu vermitteln. Es muß das Ziel sein, der Botschaft der Kirche zeitgemäß und lebendig Ausdruck zu verleihen.

Ich denke, die neugestaltete Apostelkapelle ist ein Versuch des Presbyteriums, sich dieser Herausforderung zu stellen. Es wurde ein zweiter Gottesdienstort geschaffen, um kleinere Andachten in angemessenen Räumlichkeiten zu feiern. Nun könnte man einräumen, daß nach unserem protestantischen Verständnis die Feier des Gottesdienstes keinen Kirchraum benötigt, sondern wir in jedem Raum Gottes Wort hören und erfahren können. Dem kann man grundsätzlich kaum widersprechen. Aber ich denke, es geht um mehr. Es geht auch darum, im Kirchraum etwas von dem ganz Anderen zu erfahren, für das die christliche Botschaft steht: vom Unterbrechen, Aufbrechen, vom Aufbruch aller Abläufe, Sachzwänge und Gewohnheiten. Die Kirche sollte also nicht nur mit ihrem Reden, sondern auch mit ihrer Ästhetik aus all dem ausbrechen, was wir uns angewöhnt haben. Gerade indem sie Fremdkörper in der Landschaft ist, und ich sage bewußt hinzu: vertrauter Fremdkörper, behält sie den Charakter eines Geschenks. Eines Raumgeschenks, das seine Anziehungskraft durch seine besondere Ausstrahlung erhält. Es ist wichtig, einen Ort freizuhalten, auszugrenzen für die Christusbegegnung. Einen Schutzraum, in den die Menschen fliehen können vor Sinnentleerung, Leistungsdruck, vor Weltangst und Reizüberflutung. Der Ort soll ein wenig den Glanz Gottes in der Welt widerspiegeln. Im Zeichen des Kreuzes bieten Kirchräume Zuflucht und Ruhe, Versammlung, Andacht und Anbetung und sind Zeugen des 2000 Jahre alten christlichen Gotteslobes.

Aus diesen Gedanken heraus haben wir bei der Gestaltung der Apostelkapelle bewußt einen puristisch minimalistischen Ästhetikansatz umgesetzt. Die zurückgenommene Gestaltung scheint uns die angemessene Reaktion auf die laute, bunte, reizüberflutete Alltagswelt zu sein. So wird in diesem Sakralraum ein Antiraum zu den Profanräumen unseres Alltags geschaffen, der den Menschen die Freiheit gibt, zu sich selbst zu finden. Ich hoffe, daß die neugestaltete Apostelkapelle für die Gemeinde eine Bereicherung ist und daß Sie im Gebrauch unsere Gedanken nachvollziehen können.

Auf der Glaswand zwischen dem Kirchraum und der Apostelkapelle befindet sich ein Bibelzitat aus der Apostelgeschichte, welches seit über 2000 Jahren das christliche Gemeinde- und Gottesdienstleben auf den Punkt bringt: „Sie aber blieben beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet“ (Kap. 2, V. 42). In dieser Hoffnung und dieser Zielsetzung übergebe ich Ihnen die neugestaltete Apostelkapelle.

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